„Als Gründungsteam, die Chance zu bekommen, seine Idee über anderthalb Jahre frei von irgendwelchem Umsatzdruck entwickeln zu können, ist eine fast einzigartige Situation.“

v.l.n.r.: Moritz Schmidt, Dr.-Ing. Dennis Michaelis, Dr.-Ing. Enver Solan
© Bochum Wirtschaftsentwicklung, Donna und der Blitz GmbH

Noch reicht die Künstliche Intelligenz (KI) nicht an das menschliche Gehirn heran. Für Deep-Tech Start-ups wie GEMESYS ist das eine große Herausforderung. Das Gründungsteam an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) arbeitet an einer innovativen Computerarchitektur, die die Entwicklung von KI-Anwendungen einen großen Schritt weiterbringen wird. Parallel dazu bereiten sich Dr. Enver Solan, Dr. Dennis Michaelis und Moritz Schmidt auf die Gründung ihres Start-ups vor. Unterstützt werden sie dabei von der WORLDFACTORY der RUB.

Herr Schmidt, GEMESYS baut einen Chip, der ähnlich wie das menschliche Gehirn funktionieren soll. Können Sie einem Laien erklären, worum es dabei geht?
Schmidt:
Am besten hole ich dazu etwas aus: Bei Künstlicher Intelligenz versucht man, mit Algorithmen menschliche Intelligenz nachzuahmen. Dazu benutzt man aber Computer, die nichts mit der Funktionsweise eines Gehirns gemeinsam haben. Das ist eigentlich schon eine Diskrepanz, die unserer Meinung nach nicht sein darf. Hintergrund ist: Jeder Computer hat eine informationsspeichernde und eine informationsverarbeitende Einheit. Kurz: RAM und CPU. Diese beiden Einheiten sind voneinander getrennt, müssen aber durchgängig miteinander kommunizieren. Das ist ungeheuer zeit- und energieaufwändig. Stellen Sie sich vor, Sie würden in Bochum ein Schloss aus Legosteinen bauen. Die Legosteine würden aber in Berlin gelagert werden. Sie können und dürfen aber jedoch nicht mehr als fünf Teile auf einmal transportieren. Das heißt, Sie müssen die ganze Zeit hin- und herfahren, so dass wesentlich mehr Zeit und Energie für die Fahrt zwischen Bochum und Berlin investiert werden als für den eigentlichen Aufbau des Schlosses. So kann man sich in etwa das Problem bei der heutiger Hardware-Architektur vorstellen. Der Unterschied zu einem Gehirn ist, dass es dort keine Trennung zwischen informationsspeichernder und informationsverarbeitender Einheit gibt. Wir arbeiten daher an einer Technologie, die die Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns nachempfindet.

Das bedeutet, Ihr Chip führt die informationsspeichernden und informationsverarbeitenden Einheiten zusammen, so dass keine trennenden Wege mehr dazwischen liegen?
Schmidt:
Das kann man so sagen. Wir nutzen dafür ein elektronisches Bauelement, einen sogenannten Memristor. Er hat die Eigenschaft, dass er die Funktionsweise beider Einheiten in sich vereinen kann. Stark vereinfacht gesagt, können wir damit die Funktionalität von Neuronen und Synapsen im Gehirn auf elektrotechnischer Ebene nachbilden. Damit verbunden ist der Aufbau einer vollkommen neuen Hardware-bzw. Computer-Infrastruktur.

Ihr Ziel ist, Innovationen im KI-Bereich zu beschleunigen. Wie kann das funktionieren?
Schmidt:
Bei der Arbeit mit künstlicher Intelligenz unterscheidet man zwischen Training und Inferenz. Das Training kann man sich wie bei einem kleinen Kind vorstellen, das gerade die Welt entdeckt. Ein Kind muss zum Beispiel erst einmal einen Elefanten sehen, um einen Elefanten überhaupt wiedererkennen zu können. Das ist der Trainingsprozess. Hinterher, wenn das Kind verstanden hat, was ein Elefant ist, wird es ihn auf Bildern, in Filmen oder im echten Leben immer wieder erkennen. Es zieht also eine logische Schlussfolgerung aufgrund des erworbenen Wissens. Das nennt man Inferenz.
Mit unserem Chip setzen wir beim Trainingsprozess an. Bei Tesla oder Google stehen zum Beispiel riesige zentrale Rechenzentren, die mit sehr, sehr großen Mengen an Daten „gefüttert“ werden. Dort wird die KI trainiert. Ein Trainingsziel kann zum Beispiel sein, dass die Sensoren eines Autos bestimmte Schilder erkennen können und das Auto entsprechend reagiert. Wie eingangs geschildert, verbraucht dieses Training sehr viel Energie und Zeit, aufgrund der computerinternen Kommunikationswege. Dazu folgendes Beispiel: Go ist in Asien ein weit verbreitetes Brettspiel. Nun hat Google vor einiger Zeit das Computerprogramm AlphaGo entwickelt. Die KI-basierte Anwendung hat inzwischen sogar den weltbesten Go-Spieler geschlagen. Allein das Training der KI hat über 35 Millionen Dollar an Betriebskosten verursacht, wobei der überwiegende Teil auf Energiekosten entfällt. Und was den Faktor Zeit betrifft: Tesla benötigt pro Trainingszyklus eines Chips für autonom fahrende Fahrzeugen über dreißig Tage. So lange rechnen die Computer, bis man sich die Ergebnisse ansehen und testen kann. Nach eigenen Angaben sieht Tesla hier den größten Innovationshemmer für seine Entwicklungsarbeiten. Das macht die Dimensionen deutlich. Würde die Computerhardware zukünftig umgestellt werden und mit unserem Chip arbeiten, würde dies zu einer extremen Energie- und Zeitersparnis führen.
Ein weiterer Effekt ergibt sich auch hinsichtlich der Flexibilität oder Mobilität der Trainingsorte. Aktuell sind für das Training von KI-Anwendungen große zentrale Rechenzentren notwendig. Zukünftig sollte es möglich sein, unseren Chip in Notebooks, Autos usw. zu integrieren, um KI vor Ort zu trainieren. Ein Handy könnte damit individuell an den Bedarf des Nutzers angepasst lernen. Das unterscheidet sich deutlich von heutigen Anwendungen, die auf Durchschnittsdaten von Nutzerinnen und Nutzern basieren.

Die Idee dafür ist an der Ruhr-Universität Bochum entstanden?
Schmidt:
Richtig, sie basiert auf den Promotionen meiner beiden Mitgründer Enver Solan und Dennis Michaelis. Beide kommen aus der Elektrotechnik und haben an der Ruhr-Universität Bochum an der Schnittstelle verschiedener Forschungsgruppen gearbeitet. Nach seiner Promotion hat Dennis beschlossen, seine Ergebnisse im Rahmen einer Unternehmensgründung zu realisieren. Kurz darauf hat er Enver und mich an Bord geholt. Ich bin Betriebswirt und habe mehrere Jahre in einer Unternehmensberatung gearbeitet. Da wir uns alle bereits vom Sport kannten, war der Einstieg ins Team einfach.

Sie haben dann Kontakt zur WORLDFACTORY, dem Start-up Center der Ruhr-Universität Bochum, aufgenommen. Was hat Sie dort erwartet?
Schmidt:
Zunächst einmal haben wir am Ideenwettbewerb „Leitidee - Tech-Start-ups“ der WORLDFACTORY teilgenommen, einfach um festzustellen, ob und wie unsere Idee überhaupt ankommt. Als wir dann dort auf dem ersten Platz gelandet sind, war klar, dass wir unsere Idee weiterverfolgen. Über das Team der WORLDFACTORY haben wir anschließend von EXIST-Forschungstransfer erfahren. Das Programm passt ja für uns wirklich wie die Faust aufs Auge: Unsere Technologie ist an der Universität entstanden, ist dem Deep-Tech-Bereich zuzuordnen und hoch innovativ, und nicht zuletzt haben zwei Teammitglieder in dem Bereich promoviert.
Die WORLDFACTORY hat uns dann dabei unterstützt, den Antrag zu stellen. Und obwohl der Bewerbungsschluss kurz bevorstand und wir nur noch anderthalb Monate Zeit hatten, haben wir es mit vereinten Kräften geschafft, den ziemlich umfangreichen Antrag noch rechtzeitig einzureichen. Der ist auch direkt beim ersten Versuch durchgegangen, so dass wir zum 1. Oktober 2021 mit dem Vorhaben starten konnten.

Sie befinden sich aktuell in der Förderphase I von EXIST-Forschungstransfer. Hat das Programm aus Ihrer Sicht bisher gehalten, was es versprochen hat?
Schmidt:
Ja, definitiv. Wir waren zum Beispiel ursprünglich mit einer etwas anderen Idee in die EXIST-Förderung eingestiegen. Je intensiver wir uns aber mit der Technologie auseinandergesetzt und weiterentwickelt haben, desto mehr haben wir erkannt, dass sie weitaus mehr Potenzial bietet als gedacht. Auch im Gespräch mit Kunden und potenziellen Anwendern haben wir festgestellt, dass die Technologie in einem viel größeren Rahmen anwendbar ist. Zum Glück hat sich das EXIST-Programm dann als sehr flexibel gezeigt hat, so dass wir die Möglichkeit hatten, die Entwicklung unter veränderten Vorzeichen weiter zu verfolgen.

Neben der Hilfestellung bei der Beantragung von EXIST bietet die WORLDFACTORY ein umfangreiches Angebot an Veranstaltungen, Coaching und Inkubatorprogrammen an. Was hat Ihnen unter dem Strich besonders weitergeholfen?
Schmidt:
Ich denke, die Vernetzung zwischen den Gründungsteams war für uns sehr hilfreich. Meistens ist es ja so, dass das Problem, das man gerade hat, genauso schon bei anderen Teams aufgetreten ist. Man kann sich also gegenseitig Tipps geben. Bei Patent- oder Finanzierungsfragen unterstützt uns das Team der WORLDFACTORY sehr mit seinen Erfahrungen. Dabei helfen zum Beispiel die regelmäßig stattfindenden Touch Points, bei denen man alle Fragen stellen kann, die einen gerade so umtreiben. Und wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der WORLDFACTORY mal keine Antwort wissen, geben sie die Fragen raus in ihr weit verzweigtes Gründungsnetzwerk. Dieser Multiplikatoreffekt funktioniert extrem gut.

Sie waren mit der WORLDFACTORY auch in den USA. Wie kam es dazu?
Schmidt:
Wir waren Mitte 2022 in New York im Rahmen des STEP USA Programms der Deutsch-Amerikanischen Handelskammern. Organisiert wurde unsere Reise aber von der WORLDFACTORY. Für uns war es natürlich toll, das Tech-Ökosystem in New York, das zweitgrößte nach dem Silicon Valley, kennenzulernen. Dabei sind uns auch die Unterschiede deutlich geworden. Die amerikanische Start-up-Szene baut viel mehr auf Visionen auf. Was hat das Start-up vor? Wo will es irgendwann mal hin? Die Vision kann da eigentlich kaum groß genug sein. In Deutschland wird eher in bestehende Umsätze investiert bzw. in einen soliden Plan. Wer zu groß denkt, wirkt in Deutschland eher abschreckend. Hier bevorzugt man eher Gründerinnen und Gründer, die „auf dem Teppich bleiben“.
Auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt es Unterschiede. In den USA scheinen die Beschäftigten viel interessierter an Unternehmensbeteiligungen zu sein. Die verzichten lieber auf einen gewissen Teil ihres Gehalts und erhalten dafür die Chance, innerhalb der nächsten fünf Jahr am Unternehmenswachstum teilzuhaben und darüber extrem viel Geld zu machen. In Deutschland ist uns aufgefallen, dass viele Leute, die man als Mitarbeitende in Betracht zieht, lieber ein höheres Gehalt bevorzugen, das ihnen mehr Sicherheit verleiht.

Apropos Geld: Sie haben auch an sehr vielen Wettbewerben und Pitches teilgenommen. Nur des Preisgelds wegen?
Schmidt:
Nein, wir haben die Teilnahme an den Wettbewerben vor allem dafür genutzt, Reichweite zu generieren und den Namen GEMESYS gegenüber Investorinnen und Investoren sowie weiteren potenziellen Kooperationspartnern bekannt zu machen. Das ist uns extrem gut gelungen. Inzwischen haben wir auf LinkedIn fast 900 Follower in nur einem Jahr dazu gewonnen. Und: Wir wurden bereits von über 25 Investoren angesprochen, die größtenteils über die Wettbewerbe von uns gehört hatten.

Sie haben sich auch an dem Akzelerator High-Tech.NRW beteiligt. Wie war Ihre Erfahrung damit?
Schmidt:
Das Team von High-Tech.NRW war super. Wir haben durch die Teilnahme ein tolles Netzwerk aufgebaut. In Nordrhein-Westfalen gibt es einfach viele Player, die in unserem Tech-Bereich unterwegs sind. Die haben wir über High-Tech.NRW kennengelernt. Hinzu kam die Vernetzung unter den Start-ups. Nicht zuletzt bedeuteten der ganze Support und die Beratung natürlich einen sehr guten Input für uns. Die Kolleginnen und Kollegen sind wirklich fit im Bereich Deep-Tech und Technologietransfer.

Würden Sie sagen, dass es für Start-ups im Deep-Tech-Bereich besondere Hürden gibt?
Schmidt:
Eine Herausforderung im Deep-Tech-Bereich ist immer das Technologierisiko. Normalerweise haben Start-ups ein sehr großes Marktrisiko und ein eher geringes Technologierisiko. Bei uns ist es andersherum. Wenn unsere Technologie, die wir gerade entwickeln, tatsächlich funktioniert, ist das Marktrisiko relativ gering. Die Nachfrage wird auf jeden Fall da sein. Da wir es aber mit einer ganz neuen Technologie zu tun haben, können wir noch nicht hundertprozentig sagen, ob und wie genau das Ganze funktionieren wird.
Hinzu kommt, dass die Entwicklungszeit wesentlich länger ist und man in den ersten fünf bis sieben Jahren meist keine Umsätze erzielt. Das bedeutet, man muss Investorinnen und Investoren finden, die einen langen Anlagehorizont haben und bereit sind, sich auf das technologische Risiko einzulassen. Und nicht zuletzt benötigt man hoch spezialisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aber aufgrund des aktuell herrschenden Fachkräftemangel nicht leicht zu bekommen sind.

Gab es auch etwas, was Ihnen Auftrieb gegeben und Sie positiv überrascht hat?
Schmidt:
Ich habe den Eindruck, je mutiger man ist, desto mehr geben einem die Leute zurück. Außerdem macht es auch sehr viel Spaß, neue Pfade zu gehen. Das ist für mich und meine Kollegen ein zentraler Punkt: an etwas zu arbeiten, das wirklich komplett neuartig ist und dass hoffentlich langfristig einen positiven Einfluss auf die technische Entwicklung in Wirtschaft und Gesellschaft haben wird. Das ist das, was uns täglich antreibt und wofür wir von vielen Leuten Anerkennung und Unterstützung erhalten. Wir haben es zum Beispiel geschafft, den Co-Gründer von Arm, Jamie Urquhart, als Berater und Beiratsmitglied ins Team zu holen. Arm ist weltweit führend im Chip-Design unterwegs. Das Unternehmen gehört zu den 200 wertvollsten weltweit. Es gibt zum Beispiel kaum ein Smartphone ohne Arm-Architektur. Insofern ist es ein großer Erfolg für uns, dass Jamie an Bord ist.

Wie sehen Ihre nächsten Schritte aus?
Schmidt:
Wir sind gerade dabei, potenziellen Investorinnen und Investoren zu zeigen, dass unser Chip so funktioniert, wie wir uns das vorstellen. Wir rechnen damit, Ende 2023 bzw. Anfang 2024 unseren ersten Prototypen vorzustellen, der die Funktionalität beweist. Dazu werden wir Benchmark-Projekte durchführen und unsere Technologie mit der State of the Art Hardware-Architektur vergleichen. Damit können wir zeigen, wie viel schneller, wie viel besser unsere Technologie arbeitet. Und von da aus geht es dann über mehrere Iterationsschleifen weiter, bis wir die notwendige Marktreife erreicht haben. Da wir auf einer komplett neuen Infrastruktur aufbauen, haben wir mit Entwicklungszyklen zutun, die weitaus länger sind als bei anderen Gründungsprojekten. Wir reden hier über einen Zeitraum von vier bis sieben Jahren. Deshalb werden wir zukünftig sicherlich auch Gebrauch von EXIST-Forschungstransfer II machen. Damit verbunden ist entweder ein Wandeldarlehen oder ein VC-Investment. Ohne Wagniskapital wird es langfristig nicht funktionieren.

Gibt es abschließend noch einen Tipp für andere Gründerinnen und Gründer?
Schmidt:
Netzwerken, netzwerken, netzwerken und so vielen Menschen wie möglich von der Idee erzählen. Das bedeutet nicht, alle Ratschläge eins zu eins umzusetzen. Man muss schon seinen eigenen Kurs halten. Trotzdem sollte man das Feedback ernst nehmen und überlegen, was einen weiter nach vorne bringt.
Ansonsten würde ich sagen: einfach machen. Ich bin auch einfach ins kalte Wasser gesprungen und habe meinen unbefristeten Vertrag bei einer Unternehmensberatung gekündigt, weil ich die Idee von Enver und Dennis spannend fand. Ich habe es nicht bereut, denn die Erfahrungen, die ich bisher gesammelt habe, hätte ich als Angestellter in einem normalen Karriere-Track nie erlebt.

 

Weitere Informationen:
GEMESYS

Die Initiative Exzellenz Start-up Center.NRW fördert das WORLDFACTORY Start-up Center an der Ruhr-Universität Bochum. 

Publikation

GEMESYS gewinnt Gründungswettbewerb - Digitale Innovationen

Das Bochumer Start-up überzeugte mit seiner Idee beim „Gründungswettbewerb Digitale Innovationen“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz.

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