„chemstars.nrw war für uns ein regelrechter Booster.“

Fünf Personen stehen auf einer Straße und blicken in die Kamera
v.l.n.r.: Amelie Wolfgart, Philipp Pflüger, Marius Kühnemund, Tobias Elsbecker, Lars Wenning
© ChemInnovation GmbH

Ob in Lebensmitteln, Medikamenten oder Batterien: chemische Gemische finden sich (fast) überall. Sie bestehen aus Hunderten oder Tausenden von Molekülen. Jedes davon mit bestimmten Eigenschaften. Doch um festzustellen, welche Moleküle in einer bestimmten Substanz erhalten sind, sind aufwändige und teure Analysen notwendig. Das könnte sich bald ändern. Das Gründungsteam der ChemInnovation GmbH hat an der Universität Münster einen KI-basierten Algorithmus entwickelt, der den Analyseprozess erheblich beschleunigt und darüber hinaus genauere Ergebnisse als bisherige Verfahren liefert. Dafür wurde es beim „Gründungswettbewerb – Digitale Innovationen“ durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz mit dem Gründungspreis+ ausgezeichnet. Dazu beigetragen hat nicht zuletzt die intensive Unterstützung durch das REACH – EUREGIO Start-up Center der Universität Münster. Aktuell nehmen Philipp Pflüger, Marius Kühnemund, Lars Wenning, Tobias Elsbecker und Amelie Wolfgart außerdem an dem sechsmonatigen Akzelerator von chemstars.nrw teil. chemstars.nrw wurde von namhaften Unternehmen der chemischen Industrie in Nordrhein-Westfalen (NRW) mit Unterstützung der Landesregierung NRW im Rahmen der Initiative Exzellenz Start-up Center.NRW „chemstars.nrw“ ins Leben gerufen. Warum das Netzwerk für chemierelevante Gründungen ein regelrechter Booster sein kann, erklärt Philipp Pflüger im folgenden Interview.

 

Herr Pflüger, Sie haben ein Verfahren entwickelt, das die Analyse von chemischen Substanzen erheblich beschleunigt. Können Sie das an einem Beispiel erklären?

Pflüger: Ja, klar. Man kennt das zum Beispiel aus Krimis: Da werden irgendwelche Flüssigkeiten, Farbrückstände oder andere Proben von Substanzen, die am Tatort gefunden wurden, im kriminaltechnischen Labor auf ein Gerät gestellt. Innerhalb kürzester Zeit erfahren dann alle Beteiligten, was genau diese Proben beinhalten: dass zum Beispiel eine Bodenprobe Moleküle von bestimmten Pflanzen, Tieren, Mineralien usw. enthält, die typisch für einen Waldboden in einer bestimmten Region sind. Das geht im Film immer ganz fix. In der Realität ist das leider nicht ganz so. Da bekommt man das Ergebnis zunächst in Form von Spektren angezeigt. Also eine Art Bild. Erst wenn diese Spektren analysiert wurden, weiß man, mit welchen Molekülen man es zu tun hat. Das ist ein sehr aufwändiges Verfahren, das in der Regel manuell erfolgt und mehrere Stunden oder Tage in Anspruch nimmt. Dabei wird mit Datenbanken gearbeitet, die aber letztlich nur 0,01 Prozent aller bekannten Moleküle enthalten. Es handelt sich also insgesamt um einen sehr zeit- und kostenintensiven Prozess.

Und dieser Prozess wird durch Ihre Software beschleunigt?

Pflüger: Wir haben in einem langjährigen Forschungsprojekt eine KI-Algorithmus mit dem Namen METIS entwickelt, der praktisch jedes Spektrum innerhalb weniger Minuten automatisch auswertet und Moleküle identifiziert. Dabei sind wir nicht auf bestimmte Molekülklassen beschränkt. Im Gegenteil: Unsere Tests zeigen, dass unser Algorithmus sowohl bei Basischemikalien wie sie in der Industrie eingesetzt werden, als auch zur Untersuchung von Lebensmitteln, Kunststoffen, Batterien usw. eingesetzt werden kann.

Könnten Sie ein einfaches Beispiel nennen?

Pflüger: Wir haben gerade Sommer, da wird viel gegrillt. Viele Grillsaucen enthalten zum Beispiel ein Raucharoma, damit das Holzfäller-Steak auch so richtig nach Wald schmeckt. Traditionell wird Raucharoma durch die Verbrennung von Holz hergestellt. Der eingefangene Rauch enthält mehrere hundert Moleküle. Dabei hat jedes eine andere Eigenschaft. Für einen industriellen Hersteller von Raucharoma ist nun interessant zu wissen, welche Eigenschaften diese Moleküle haben. Welche davon sind tatsächlich ausschlaggebend für die typischen Eigenschaften eines Raucharomas, welche sind gesundheitsschädlich, welche sind verzichtbar? Auf der Grundlage können dann zum Beispiel synthetische erzeugte Alternativen hergestellt werden.

Ein weiteres klassisches Anwendungsbeispiel finden Sie in der Pharmazie. Nehmen wir an, ein Chemiker möchte einen neuen Wirkstoff für ein Medikament produzieren. Dabei entstehen im Verlauf des mehrstufigen Herstellungsprozesses zahlreiche Moleküle, darunter auch Nebenprodukte, die für das Medikament gar nicht relevant oder vielleicht sogar giftig sind. Mit Hilfe unserer Software lässt sich nun innerhalb weniger Minuten feststellen, um welche Nebenprodukte es sich handelt und es wird einfacher diese Stoffe im weiteren Produktionsverfahren zu eliminieren.

Sie sagten, Ihr KI-Algorithmus ist im Rahmen eines Forschungsprojektes an der Universität Münster entstanden. In welchem Kontext?

Pflüger: Das war im Rahmen meiner Promotion am Organisch-Chemischen Institut bei Professor Frank Glorius. Ich hatte damals zahlreiche chemischen Reaktionen durchgeführt und hatte schließlich eine riesige Menge an Daten, die ich auswerten musste. Ich saß also Wochenende für Wochenende im Labor vor dem Rechner und stellte irgendwann fest, dass mir die Zeit davonläuft. Irgendwann kam dann glücklicherweise Marius, mit dem ich damals schon befreundet war, zu mir und meinte: „Wir wollen am Wochenende mal wieder was mit dir unternehmen. Lass uns mal was entwickeln, was dein Problem löst.“ Marius hatte damals zu maschinellem Lernen mit chemischen Daten promoviert. Wir haben also dann beide überlegt, wie eine automatisierte Auswertung der Daten aussehen könnte.

Und damit waren die Wochenenden wieder frei?

Pflüger: Na ja, das hat dann doch etwas gedauert. Insgesamt haben wir drei Jahre lang an einer Lösung gearbeitet bis wir tatsächlich ein Machine Learning Modell – quasi das Gehirn der KI - entwickelt hatten, dass das jeweils richtige Molekül bestimmen konnte. Durch diese gemeinsame Entwicklungsarbeit sind wir auf viele andere Ideen gekommen, so dass ich mich in meiner Promotion deutlich mehr mit maschinellem Lernen beschäftigt habe.

So weit so gut, aber wie kamen sie dann auf die Idee, daraus ein Produkt zu entwickeln und ein Start-up zu gründen?

Pflüger: Das hatte zwei Gründe: Zum einen finden wir es immer sehr schade, wenn man an etwas forscht und dann ein Paper publiziert, das in der Schublade landet. Zum anderen hatten Marius und ich eine Wette abgeschlossen. Ich hatte gesagt, dass unsere Entwicklung für die Industrie und viele andere Forschungsgruppen sehr interessant sein könnte. Marius war davon nicht überzeugt.

Deshalb haben Sie das Team des REACH – EUREGIO Start-up Center um seine Meinung gefragt?

Pflüger: Den Ausschlag hat letztlich das positive Feedback von Unternehmen gegeben, die wir mithilfe des REACH kennengelernt hatten. Dazu gehörten ein Gerätehersteller, zwei Chemiekonzerne und ein Pharmaunternehmen. Die waren total begeistert und wollten unseren Algorithmus bzw. unsere Software sofort testen. Damit war klar: Wir machen weiter.

Sie haben mit Hilfe des REACH Ihr Geschäftsmodell entwickelt. Worin bestand die größte Unterstützung?

Pflüger: Vor allem am Anfang war es für uns sehr wichtig, dass wir uns mit dem Gedanken vertraut machen konnten, dass man auch als Naturwissenschaftler ein Unternehmen gründen kann. Als Absolventin oder Absolvent eines chemienahen Studiengangs führt der Berufsweg eigentlich immer in ein großes Unternehmen oder Labor. Das Thema Gründung hat man einfach nicht auf dem Schirm. Insofern hat das REACH mit seinem Pre-Incubator-Program maßgeblich dazu beigetragen, dass wir uns dem Thema gegenüber geöffnet haben.

Darüber hinaus hat uns das REACH-Team ganz praktisch bei der Beantragung von EXIST-Forschungstransfer unterstützt. Und nachdem die Förderung dann bewilligt worden war, hat es uns die Türen innerhalb der Uni geöffnet. Hierzu muss man wissen, dass es an der Hochschule naturgemäß unterschiedliche Interessen gibt. Die sind nicht immer deckungsgleich mit denen eines Start-ups. Insofern war es sehr hilfreich, dass das REACH zwischen allen Beteiligten so gut vermittelt hat.

Bei welchen Themen zum Beispiel?

Pflüger: Zum Bespiel beim Thema Geschwindigkeit. EXIST-Forschungstransfer ist ein Programm mit einer Laufzeit von anderthalb Jahren. In der Zeit muss man Hardware einkaufen, Verträge aufsetzen und so weiter. Dabei muss immer die Hochschulverwaltung mit einbezogen werden. Deren Wege sind allerdings manchmal ziemlich lang. Und da hilft das REACH in seiner Vermittlerrolle einfach sehr gut, weil es allen Beteiligten auch den Stellenwert von universitären Ausgründungen vor Augen führt. Das hat dazu geführt, dass uns letztlich doch viele Leute an der Uni unterstützt haben.

Hat das Thema IP-Transfer auch eine Rolle für Sie gespielt?

Pflüger: Auf jeden Fall. Dabei war uns schnell klar, dass wir unsere Software nicht über ein Patent, sondern nur über das Urheberrecht schützen können. Es musste also zunächst geklärt werden, wem das Urheberrecht an der damals bereits entwickelten Software gehört. Obwohl das Urheberrecht ein vergleichsweise schwaches Schutzrecht ist, kann man eine Software, an deren Entwicklung auch Dritte beteiligt waren, nicht einfach für eigene Geschäftszwecke nutzen. Das Thema Urheberrecht war aber nicht nur für uns, sondern auch für die Uni und das REACH Neuland. Letztlich war irgendwann klar, dass das Urheberrecht an der Software zum Teil bei uns und zum Teil bei der Uni liegt. Es hat zwar eine Weile gedauert, aber im Ergebnis wurde dann eine faire Vertragslösung gefunden, die für alle Beteiligten für Rechtssicherheit sorgt.

Kommen wir noch zum Gründungsteam. Das haben Marius Kühnemund und Sie inzwischen breiter aufgestellt.

Pflüger: Ja, wir haben unser Team hinsichtlich der Kompetenzen so divers wie möglich aufgestellt. Wir haben zum Beispiel Lars Wenning ins Team geholt. Er ist professioneller Softwareentwickler und hat schon in mehreren Unternehmen gearbeitet. Der Schwerpunkt von Tobias Elsbecker liegt in der Analytik, gleichzeitig kann er auch programmieren und war als Entwickler tätig. Amelie Wolfgart deckt den gesamten Business- und Kundenbereich ab. Sie wurde uns über das REACH vermittelt, weil sie aufgrund ihrer Tätigkeit in einem Chemiekonzern eine enorme Expertise im Vertrieb und in der Entwicklung von Businessmodellen besitzt. Das bringt uns gerade sehr voran.

Sie haben außerdem an dem Programm chemstars.nrw teilgenommen. Wie kam der Kontakt zustande?

Pflüger: Das Team von chemstars.nrw hatte über unseren Lehrstuhl und das REACH von uns erfahren und bot uns an, bei der Lab-to-Market-Challenge mitzumachen. Das Programm war für uns ein regelrechter Booster. Die vielen Kontakte zu Industrieunternehmen, die Beratung zu den vielen Detailfragen und die Gespräche mit anderen Chemie-Start-ups haben uns unglaublich motiviert, weiterzumachen. Damit sind wir tatsächlich zu Gründern geworden. Wir haben Prototypen erstellt, haben gemeinsam mit etablierten Unternehmen überlegt, welche Kriterien unsere Software erfüllen muss, haben uns mit dem Thema Finanzierung beschäftigt, Marktanalysen erstellt und vieles mehr.

Aktuell nehmen Sie an dem sechsmonatigen Akzelerator von chemstars.nrw teil. Wovon profitieren Sie dort am meisten?

Pflüger: Vor allem von den individuellen Beratungsgesprächen mit Leuten, die die Branchenherausforderungen verstehen. Wir treffen uns alle zwei Wochen mit unseren beiden Mentoren und gehen dabei sehr ins Detail. Es sind sehr persönliche Gespräche, die uns zusammen mit dem großen Netzwerk im Hintergrund jedes Mal ein gutes Stück weiterbringen.

chemstars.nrw richtet sich an Gründerinnen und Gründer in der Chemiebranche. Welchen besonderen Herausforderungen stellt die Branche an Gründungsteams?

Pflüger: Das sind vor allem die langen Forschungs- und Entwicklungszeiten. Wir planen mit Entwicklungszeiträumen von mindestens fünf Jahren. Wenn es dann um die Hardware geht, wie zum Beispiel Messgeräte oder Anlagen geht, kommt man gut und gerne auf Entwicklungszeiträume von zehn Jahren. Das ist für die meisten Start-ups und Investoren unvorstellbar. Vor dem Hintergrund ist es einfach sehr gut, dass chemstars.nrw den Kontakt zu Gründungsteams herstellt, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen.

Bisher gibt es in der Chemie nicht so viele Gründungen wie im IT-Bereich. Können Sie sich das erklären?

Pflüger: Darüber habe ich viel nachgedacht. Ich glaube, es liegt vor allem an drei Dingen: Erstens ist die Branche von großen Unternehmen geprägt, die eng mit den Hochschulen im Bereich Forschung zusammenarbeiten. Diese Unternehmen sind somit deutlich präsenter als die Themen „Gründung“ und „Start-ups“. Zweitens entscheiden sich viele Absolventinnen und Absolventen aufgrund der guten Gehälter in der Chemiebranche für eine Angestelltentätigkeit. Und schließlich kommen noch die langen Entwicklungszeiten für die Produktentwicklung hinzu. Von daher sehen viele Gründungen in der Chemiebranche eher als unattraktiv. Umso wichtiger ist eine Gründungskultur und ein Ökosystem, das Forschende aus der Chemie für Unternehmensgründungen motiviert.

Sie sagten bereits, dass der Zuspruch von Seiten der etablierten Unternehmen sowie die Betreuung durch das REACH und chemstars.nrw Sie motiviert haben, ein Start-up zu gründen. Haben Sie noch weitere positive Erfahrungen gemacht?

Pflüger: Dass wir uns als Team so schnell zusammengefunden haben und wirklich gut zusammenarbeiten. In nur anderthalb Monaten haben wir ungeheuer an Professionalität gewonnen. Wir merken, dass wir immer schneller werden in dem, wie wir arbeiten, wie wir entwickeln und wie wir unser Wissen austauschen.

Ein weiterer Pluspunkt ist die Kommunikation mit der Uni Münster. Trotz größter Herausforderungen haben wir letztlich doch alles gelöst bekommen. Hinzu kommt, wie gesagt, die Unterstützung durch die vielen Chemieunternehmen. Und das, obwohl die Chemiebranche gerade unter schwierigen Zeiten leidet. Ich hätte nicht erwartet, dass die Bereitschaft, uns zu unterstützen, so groß ist.

Gab es auch Herausforderungen, mit denen Sie nicht gerechnet hatten?

Pflüger: Ja, auf jeden Fall. Wir haben am Anfang unterschätzt, wie lange Entscheidungsprozesse in großen Unternehmen dauern. Bis man von einem ersten Kontakt zu einem „wir finden das super, weil wir damit xx Euro an Kosten sparen“ bis hin zu einem Vertragsabschluss kommt, dauert es ewig. Das muss man einplanen. Außerdem haben wir das komplexe IP-Thema unterschätzt. Insgesamt hat es etwa zweieinhalb Jahre gedauert, mit der Uni im Detail einen gemeinsamen Weg zu finden.

Sie erhalten erst seit diesem Juli EXIST-Forschungstransfer. Nach anderthalb Jahren geht es vermutlich weiter mit der zweiten Phase. Wissen Sie schon, wie Sie sich darüber hinaus finanzieren werden?

Pflüger:Wir versuchen derzeit, Kunden für unseren ersten Prototyp zu gewinnen, um möglichst schnell Nutzen zu bringen und erste Umsätze zu erzielen. Unser Ziel ist, unser Gründungvorhaben so gut es geht aus eigenen Mitteln zu finanzieren und Investoren nur an Bord zu nehmen, wenn es wirklich notwendig wird. Wir möchten mit ChemInnovation auch gerne in 20 oder 30 Jahre noch innovative Lösungen für die Chemie entwickeln.

Wo steht Ihr Start-up ChemInnovation denn aktuell?

Pflüger: Mittlerweile sind wir so weit, dass wir auf unserem Server Daten von potenziellen Kunden auswerten können. Aber damit sind wir noch lange nicht am Ziel, weil es einfach einen großen Unterschied macht, ob man auf seinem Server einen Forschungsprototypen installiert hat oder ob man es mit einer stabil laufenden Software zu tun hat, die auf dem Kundenserver oder in einer Cloud integriert wird.

Und zu guter Letzt: Was würden Sie anderen Gründungsinteressierten empfehlen?

Pflüger: Einfach machen und sich nicht entmutigen lassen. Selbst wenn man scheitert, qualifiziert es einen für alles, was danach kommt. Am Ende braucht die Welt smarte Menschen, die smarte Dinge tun.

Weitere Informationen:

ChemInnovation GmbH

Stand: August 2023

Die Initiative Exzellenz Start-up Center.NRW fördert das REACH-EUREGIO START-UP CENTER an der Universität Münster.