„Um Innovationen hervorzubringen, ist die Vielfalt in Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft entscheidend. Das zeigt sich gerade auch in der Start-up-Kultur."

Foto: © Robert Kneschke

Ausgründungen aus Hochschulen spielen eine wichtige Rolle für den Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen. Sie bringen Innovationen auf den Markt, schaffen Arbeitsplätze und tragen zur Zukunftsfähigkeit der vielen kommunalen und regionalen Standorte bei. Kein Wunder, dass viele Universitätsstädte in NRW eng mit ihren Hochschulen vor Ort in Sachen Unternehmensgründungen kooperieren. Im Rahmen des Förderwettbewerbs „Exzellenz Start-up Center.NRW“ der Landesregierung Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2018 nun sechs Hochschulen ausgewählt, um sogenannte „Exzellenz Start-up Center“ aufzubauen. Wir haben in Münster, der EUREGIO, Bochum und Dortmund nachgefragt, was man sich dort von der Stärkung des akademischen Gründergeists erhofft.

Herr Lewe, als Oberbürgermeister der Stadt Münster haben Sie die Beziehung zwischen Stadt und Universität viele Jahre lang mitgestaltet. Was hat sich in den letzten Jahren verändert?
Lewe: Wenn man zurückblickt, hat sich da ungeheuer viel getan. Vor 30 Jahren waren Stadt und Hochschule eigentlich noch völlig unterschiedliche Kosmen. Als wir dann vor 20 Jahren eine Alliance for Science gegründet haben, war das der Startschuss für eine erste Kooperation zwischen Stadt und der Universität Münster. Heute, würde ich sagen, sind wir so weit, dass wir fast die ganze Stadt als Campus betrachten können.

Welche Rolle spieltdas neue REACH EUREGIO START-UP CENTER an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster dabei?
Lewe: Durch die Gründung des REACH EUREGIO START-UP CENTER, aber auch durch alle anderen Gründungsaktivitäten an der Universität Münster, haben junge und gut ausgebildete Menschen mehr noch als bisher die Chance, direkt von ihrem Studium ins unternehmerische Berufsleben zu starten. Damit bleiben sie mit ihrem Wissen unserer Stadt und Region erhalten und schaffen neue Arbeitsplätze für qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sie im Übrigen hier in der Region auch finden. REACH wirkt dabei wie ein Inkubator für immer neue Innovationen. Dadurch werden natürlich auch wichtige Impulse für die vorhandene Wirtschaft nicht nur hier in Münster, sondern in der gesamten EUREGIO gegeben.

„EUREGIO“ - Herr Almering das ist Ihr Stichwort. Sie sind Geschäftsführer der EUREGIO, einem deutsch-niederländischen Zusammenschluss von 129 Kommunen aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie den Provinzen Gelderland, Overijssel und Drenthe. Welchen Stellenwert hat für Sie das REACH EUREGIO START-UP CENTER an der WWU Münster?
Almering: Wir haben in puncto Existenzgründungen noch viel Luft nach oben, und insofern sind solche Projekte wie REACH natürlich ideal. Dabei handelt es sich um eine klassische Win-Win-Situation: Die verschiedenen Player in der EUREGIO werden durch das Start-up Center wichtige Impulse erhalten. Umgekehrt profitiert REACH aber auch von den hervorragenden Bedingungen hier in der Region, die sich durch zahlreiche sowohl junge als auch etablierte Unternehmen und nicht zuletzt durch die vielen Wissenseinrichtungen auszeichnet. Dazu gehören nicht nur die Westfälische-Wilhelms-Universität in Münster und die Universität Twente in Enschede, sondern eine ganze Reihe weiterer Hochschulen und Universitäten.

Herr Lewe, Herr Almering, neben der WWU ist auch die Universität Twente an REACH beteiligt. Ein kluger Schachzug?
Lewe: Auf jeden Fall. Diese enge Kooperation ist für uns von großer Bedeutung und wurde von Anfang an bei der Planung und Gründung des REACH mitberücksichtigt. Als Mitglied der EUREGIO, ist das für uns ein sehr innovatives europäisches Signal.

Almering: Das Thema Entrepreneurship ist an der Universität Twente schon seit jeher beheimatet. Die Universität Twente belegt in den Niederlanden bei allen Hochschul-Rankings rund um das Thema Entrepreneurship immer einen der ersten Plätze. Die Westfälische Wilhelms-Universität hat an vielen Stellen sicher auch schon Akzente gesetzt, aber die Universität Twente ist zweifellos führend und ist im Rahmen der Kooperation aufgrund ihrer Erfahrungen ein wichtiger Partner.

50 Kilometer Luftlinie südlich von Münster, in der Metropolregion Rhein-Ruhr, liegt Dortmund. Herr Corzilius, Sie leiten das Team „Gründen“ in der Wirtschaftsförderung Dortmund. Was erhoffen Sie sich von dem Exzellenz Startup Center NRW, das es seit 2019 an der Technischen Universität Dortmund gibt?
Corzilius: Das Centrum für Entrepreneurship & Transfer CET der TU Dortmund hat sich als Exzellenz Startup Center NRW ja zum Ziel gesetzt, der Start-up- und Innovationsmotor für das Ruhrgebiet zu werden. Das begrüßen wir natürlich sehr. Ein erstes wichtiges Signal war in der Hinsicht der Umzug des CET zu Jahresbeginn 2020 in das TechnologieZentrumDortmund, einem der größten Wissenschafts- und Technologieparks Europas. Dahinter steht ein Netzwerk von über 350 Unternehmen, Hochschulen und Forschungsinstituten, die nicht zuletzt innovativen Start-ups ideale Bedingungen bieten. Durch den Umzug des CET ist die TU Dortmund mit ihren Gründungsaktivitäten nun noch präsenter in diesem Netzwerk, was sich sicherlich auch auf die Anzahl und den Innovationsgrad der Ausgründungen auswirken wird.

Ähnliches erhofft man sich auch in Bochum, das ebenfalls zur Metropolregion Rhein-Ruhr gehört. Herr Heuner, Sie leiten den Bereich Gründung und Wachstum bei der Bochum Wirtschaftsentwicklung. Welche Erwartungen haben Sie an das WORLDFACTORY Start-up Center (WSC) an der Ruhr-Universität Bochum?
Heuner: Ich glaube, dass wir uns mitten in einem Transformationsprozess befinden und gerade dieses Gelegenheitsfenster haben, viele Dinge anzuschieben, die die Stadt und die Region in die richtige Richtung führen. Wenn die Ruhr-Universität Bochum zukünftig alle ihre Angebote für ihre Gründerinnen und Gründer unter dem Dach des WORLDFACTORY Start-up Center zusammenführt und das ehemalige Opel-Verwaltungsgebäude Mark 51°7 beziehen wird, entsteht damit auf 1.800 qm einer der bundesweit größten Maker Spaces Deutschlands für die nationale und internationale Gründerinnen- und Gründer-Community.

Welchen Effekt das hat, wird man vielleicht erst in fünf oder zehn Jahren sehen. Wir haben aber bereits in den letzten Jahren in verschiedenen Innovationsfeldern wie den Informations- und Kommunikationstechnologien, Smart Materials usw. gesehen, dass aus der Forschung sehr erfolgreiche Start-ups entstehen können. Das sind heute Unternehmen, die mit ihren Anwendungen zum Teil deutschlandweit oder darüber hinaus führend sind. Für die Stadt Bochum ergeben sich dadurch nicht nur positive Arbeitsplatzeffekte und hochwertige Jobs, sondern auch eine Aufwertung als Standort insgesamt.

Apropos Standort: Damit die Gründungsteams aus der RUB sich auch in Bochum mit ihren Unternehmen ansiedeln, muss die Stadt auch für Start-ups attraktiv sein. Was hat Bochum zu bieten?
Heuner: Jede Menge. Zunächst einmal haben wir als kommunale Wirtschaftsförderung für einige zentrale Bausteine gesorgt. Die Technologie- und Gründerzentren zum Beispiel sind durchgängig ausgebucht. Dazu kommen die zahlreichen Angebote rund um Gründungsberatung, Gründerbetreuung, Inkubatoren und so weiter. Außerdem beteiligen wir uns finanziell an Veranstaltungen oder auch an Einrichtungen wie dem ruhr:HUB als regionalem Anlaufpunkt für Start-ups.

Darüber hinaus haben wir natürlich sehr viele Unternehmenskontakte. Das ist etwas, was den Start-ups fehlt: Insofern üben wir hier eine wichtige Netzwerkfunktion aus und ermöglichen den Gründungsteams den Zugang zu potentiellen Kunden bzw. den Austausch mit mittelständischen Unternehmerinnen und Unternehmern über denkbare technische Problemlösungen. Im Unterschied zu anderen Gründungsmetropolen wie beispielsweise Berlin, München oder Hamburg ist die Gründungsszene im Ruhrgebiet ja sehr stark im Bereich Industrie und Produktion aktiv und bietet Lösungen für den B2B-Bereich an.

Herr Lewe, Münster ist weniger von Industrie als vielmehr von öffentlichen und privaten Dienstleistern geprägt. Wie soll die Zukunft aussehen?
Lewe: Auch Münster befindet sich mitten in einer Transformationsphase. Wir müssen uns also so aufstellen, dass wir eine Perspektive für die nächsten 20, 30 Jahre haben. Wir haben dafür den Zukunftsprozess MünsterZukünfte 20/30/50 eingeleitet. Damit stellen wir zugleich die Frage, inwiefern wir die Potentiale der Universität noch stärker für die wirtschaftliche Entwicklung der Region nutzen können. Ich bin mir mit dem Rektor der Universität Münster darüber im Klaren, dass die Hochschule viel mehr ist als nur ein Ort für Forschende, Lehrende oder Studierende. Sie ist vielmehr ein Ort für alle – auch für die hiesige Wirtschaft. Bei den größeren Unternehmen hier im Münsterland gibt es zum Beispiel eigentlich kaum noch ein Unternehmen, das nicht mit der Universität oder FH Münster eng kooperiert.

Wobei Start-ups und Mittelständler mitunter noch etwas miteinander fremdeln. Was meinen Sie, Herr Heuner?
Heuner: Das stimmt schon, aber das hängt einfach damit zusammen, dass den Studierenden beziehungsweise Absolventinnen und Absolventen oft einfach das Bewusstsein für den unternehmerischen Mittelstand fehlt. Die haben den einfach nicht auf dem Schirm. Viele kennen den regionalen Mittelstand nicht mit seinen Riesenpotenzialen für technische Innovationen. Die mittelständischen Unternehmen wiederum haben oft nicht die Zeit oder das Personal, um sich mit den vielleicht zunächst noch unreifen Ideen oder Prototypen von Start-ups zu beschäftigen. Aber wenn wir hier als Vermittler auf beiden Seiten das Interesse aneinander wecken, öffnet das natürlich Türen und überbrückt diese Differenzen.

In Dortmund gibt es ein Kooperationsnetzwerk, das unter anderem Mittelständler und Start-ups matcht. Herr Corzilius, welche Erfahrungen gibt es dazu?
Corzilius: Wir haben in Dortmund sehr gute Erfahrungen mit unserem Kooperationsnetzwerk gemacht. Wir arbeiten mit den Kammern, der TU Dortmund, der Fachhochschule und weiteren Partnern in Dortmund und auch in der Region schon seit vielen Jahren gut zusammen und entwickeln gemeinsam Projekte. Aus dem Thema Matching von Start-ups und mittelständischen Unternehmen ist der Round Table Start-up - Mittelstand entstanden, der von der IHK zu Dortmund und der TU Dortmund geleitet wird. Da gibt es verschiedene Formate, wie zum Beispiel den geschlossenen Round Table, wo wir einem Mittelständler anbieten, seine Themen, seine Herausforderungen ausgewählten Start-ups gegenüber vorzustellen. Oder wir bieten offene Round Tables an, an denen mehrere Unternehmen auf mehrere Start-ups treffen. Das wird gut angenommen. Da wir einen großen Pool an Start-ups haben und deren Kompetenzen relativ gut einschätzen können, ergibt sich für die teilnehmenden Mittelständler tatsächlich auch ein Mehrwert. Das spricht sich herum. Damit tragen wir die innovativen Ansätze und auch das Denken von Start-ups in die Unternehmen hier in Dortmund und der Region hinein und leisten einen wichtigen Beitrag zu deren Zukunftsfähigkeit.

Herr Heuner, lange Zeit war es so, dass Kommunen auf die Ansiedlung von etablierten Unternehmen gesetzt haben, die auf einen Schlag 500 Arbeitsplätze schaffen. Das wirtschaftliche Potential von jungen Unternehmen wurde im Vergleich dazu weniger ernst genommen. Wie ist das heute in Bochum?
Heuner: Aus unserer Sicht sind Unternehmensgründungen neben der Ansiedlung und dem Wachstum bestehender Unternehmen der entscheidende Hebel, um in Bochum weiteres wirtschaftliches Wachstum zu sichern. Nachdem wir große Unternehmen verloren haben – zuletzt Opel – sind wir jetzt soweit, dass wir diese einzelnen großen Player durch Mittelständler ersetzen wollen, um dadurch eine robustere Wirtschaftsstruktur zu bekommen. In den letzten Jahren sind hier in der Region bereits einige sehr prominente Start-ups entstanden. Dazu gehören zum Beispiel Plattformen wie Mein Praktikum, Employour oder Masterplan sowie weitere Digitalunternehmen. Um solche Unternehmen herum bildet sich gewissermaßen auch eine Szene. Damit verbunden sind Netzwerke und Vorbilder, die einen großen Anziehungspunkt bilden.

Herr Lewe, setzt Münster auch weiter auf den Mittelstand?
Lewe: Ich glaube, dass wir es zukünftig tatsächlich mit kleinteiligeren und diverseren Strukturen zu tun haben werden. Natürlich wird es immer auch die Big Player geben. Aber um Innovationen hervorzubringen, ist die Vielfalt in Forschung, Wissenschaft und Wirtschaft entscheidend. Das zeigt sich ja gerade auch in der Start-up-Kultur. Und da müssen wir ganz einfach die Leute ermutigen, ihre Ideen zu realisieren – auch wenn das vielleicht nicht immer klappt. Was die Zukunftsentwicklung dieser Stadt angeht, sehen wir gerade in der Förderung dieser kleinteiligen Strukturen die Chance, dass sich daraus auch etwas Großes ergeben kann. Es gibt ja bereits eine ganze Reihe von kleineren hoch-innovativen Ausgründungen der Universität Münster zum Beispiel im Bereich der Nano- oder Medizintechnologie. Aber das Gründungs- und Innovationspotential ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Von daher ist ein Exzellenz-Start-up-Center, so, wie es jetzt an der Westfälischen Wilhelms-Universität entstanden ist, auch so wichtig. Es bündelt alle gründungsbezogenen Angebote, koordiniert sie und bringt das Gründunggeschehen in Münster und der Region weiter voran. Nur so kann dieses bislang noch relativ große Gap zwischen dem, was an Forschung geleistet wird, und dem, was sich möglicherweise an wirtschaftlicher Potenz daraus bilden kann, geschlossen werden.

Stand: November 2020